Lebten die nördlichsten Neandertaler in Drelsdorf?
Die kleine Gemeinde Drelsdorf – Nordfriesland, knapp 40 Kilometer vor der dänischen Grenze – ist der nördlichste Ort in Europa, an dem die Anwesenheit von Neandertalern nachgewiesen werden kann. Archäolog*innen suchen und finden hier seit Langem immer neue Jahrzehntausende alte Objekte, die davon zeugen. Mit dabei ist auch Dr. Mara-Julia Weber vom Museum für Archäologie Schloss Gottorf.
Frau Weber, Sie sind im letzten Sommer in Nordfriesland nördlich von Husum unterwegs gewesen, um nach weiteren Zeugnissen zu suchen, die darauf schließen lassen, dass dort einst Neandertaler gelebt haben…
Das ist richtig. Unsere Arbeitsgruppe hat unter der Leitung von Dr. Marcel Weiß (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) im letzten September eine Ausgrabung in Drelsdorf durchgeführt. Daran waren neben Fachkolleg*innen mehrere Studentinnen der Erlanger und Kieler Universität und engagierte Freiwillige beteiligt. Das Ziel dieser Grabung bestand darin, eine größere Fläche systematisch auszugraben, um bereits bekannte Funde zeitlich besser einordnen und bestimmten Schritten bei der Flintbearbeitung zuordnen zu können. Letztendlich wollten wir damit auch mehr über die Dauer des Aufenthaltes und die Lebensweise der Neandertaler in Drelsdorf erfahren.
Wie hat man überhaupt von dieser Fundstelle erfahren?
Schon seit den 1960er Jahren hatte der Landwirt und Privatsammler Hans-Ingwer Boockhoff auf den Äckern bei Drelsdorf vom Menschen hergestellte Flintfunde zusammengetragen. Anfang der 1970er Jahre fiel ihm auf, dass sich manche Abschläge aufgrund ihrer ungewöhnlichen Oberflächenbeschaffenheit von den übrigen, weitgehend jungsteinzeitlichen oder bronzezeitlichen Flintstücken unterschieden. Die hinzugezogenen Archäologen vermuteten gleich ein hohes Alter der Objekte, sprich aus der Zeit der Neandertaler.
Und diese Expert*innen wurden dann vor Ort aktiv?
Ja, die ersten Probegrabungen machten Mitarbeiter des Archäologischen Landesmuseums schon 1981. Dr. Sönke Hartz (ehemals Museum für Archäologie Schloss Gottorf) setzte die Arbeit 1986 mit einer größeren Grabung fort, die aber leider keine Hinweise auf erhaltene Fundschichten lieferte. 2015, 2016 und 2018 suchten er und Dr. Martin Segschneider (Niedersächsisches Institut für historische Küstenforschung Wilhelmshaven) das Areal schließlich mit Kolleg*innen und archäologisch Interessierten aus Schleswig-Holstein, Dänemark und den Niederlanden systematisch ab. Seit jenen Jahren ist auch der Flintbeker Hauke Jürgens dort regelmäßig unterwegs, um die Feldflur zu begehen. Im Mai 2021 gelang ihm ein besonderer Fund: ein Flint-Schaber, dessen Oberfläche sich von vergleichbaren Drelsdorfer Artefakten unterschied. Das gab uns allen Hoffnung, dass hier eventuell auch ganze Fundschichten erhalten sein könnten. Im November 2021 folgten unter Leitung von Martin Segschneider gemeinsam mit dem niederländischen Kollegen Jaap Beuker sowie erfahrenen Freiwilligen und Studentinnen weitere Probegrabungen. Dabei traten Flintfunde zutage, die von der Machart her aus der Zeit der Neandertaler stammen könnten, deren Erhaltungsbedingungen im Gegensatz zu den Oberflächenfunden aber herausragend waren. Die Stücke hatten kaum Oberflächenveränderungen und waren noch scharfkantig. Das war ein Hinweis für uns, dass im Boden noch eine intakte Fundschicht stecken könnte.
Und um was für Funde geht es konkret und woran erkennen Sie, dass diese aus der Zeit der Neandertaler stammen?
Die auch bei unserer letzten Grabung gefundenen frisch wirkenden Artefakte sind hauptsächlich kleinere Abschläge, 2021 waren auch Stücke mit Arbeitskanten, die also als Werkzeuge genutzt wurden, darunter. Bei den hochgepflügten Oberflächenfunden handelt es sich um Abschläge, Klingen, Kernsteine und Werkzeuge wie Schaber. Wenige hundert Meter von der wichtigsten Fundstelle entfernt fand Herr Boockhoff 1984 sogar einen Faustkeil. Manche Objekte können anhand ihrer Herstellungsweise den Neandertalern zugeordnet werden, die Werkzeuge auch aufgrund ihrer Form. Außerdem haben die meisten Oberflächenfunde eine ungewöhnlich glänzende oder apfelsinenschalenartige Oberfläche, die Kanten sind stark abgerundet, zudem zeichnen sich durch Frost verursachte Risse ab.
Wie hat man sich als Laie so eine Grabung vorzustellen? Was sind die Herausforderungen?
In diesem Fall war die Grabungsfläche 4 mal 5 Meter groß, und nachdem der Bagger den Mutterboden abgetragen hatte, wurde nach Viertelquadraten ausgegraben. Das ausgegrabene Sediment wurde vor Ort mit 4 mm Maschenweite mit Wasser gesiebt, damit uns auch die kleinsten Funde nicht entgehen konnten. Funde, die beim Abtragen des Sediments mit der Kelle entdeckt wurden und eine Mindestgröße aufwiesen, wurden mit einem Messgerät dreidimensional eingemessen. Die größte Herausforderung an diesem Platz ist sicherlich die Zuordnung der Funde zu bestimmten Schichten. Durch die teils harschen und oft schwankenden Klimabedingungen der letzten Eiszeit sind die Sedimente nämlich komplexen Prozessen unterworfen worden, die heute nur mit Hilfe von Geolog*innen nachvollzogen werden können.
Wie erklären Sie als Archäologin sich diese Funde? Was könnten die Neandertaler dort gewollt haben?
Vermutlich waren sie dem Wild folgend auf der Suche nach geeigneten Jagdrevieren. Auf der Altmoräne bei Drelsdorf fanden sie so gute Bedingungen vor, dass sie dort eine Zeit lang rasteten. Wir wissen außerdem, dass in der Warmzeit zwischen den letzten beiden Eiszeiten, vor rund 120.000 Jahren, ein See in der Nähe des Fundplatzes anzutreffen war, den die Neandertaler vielleicht aufgesucht haben.
Bevor sie weiterzogen… Weckt das bei Forscher*innen anderer Nationen den Ehrgeiz, den Beweis anzutreten, dass der Neandertaler von Drelsdorf weiter in den Norden gezogen ist? Und Drelsdorf gar nicht der nördlichste Ort ist?
Ja, uns Wissenschaftler*innen geht es jedoch weniger um Superlative, sondern vielmehr darum, zu verstehen, wie die Neandertaler mit den Klimaschwankungen der letzten Eiszeit umgegangen sind. Der Norden ist da äußerst interessant, da er im Eiszeitalter besonders stark den klimatischen Schwankungen unterlag. Dr. Trine Kellberg Nielsen (Moesgaard Museum Aarhus) ist Teil unserer Arbeitsgruppe und leitet das Forschungsprojekt „NeanderEDGE: Responding to a changing world: Neanderthal Extinction and Dispersal in Glacial Extremes“ an der Universität Aarhus.